Melitta Group

Geschäftsbericht 2021

Industrie

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Wie sieht die Industrie der Zukunft aus? Welche Veränderungen lassen sich heute schon erkennen? Und was sind ihre Treiber? Eine Diskussion zwischen Gunhard Keil, Tiago Pilz und Sven Neuhaus.

Flexibilität und Resilienz

Gunhard Keil Die Industrie steckt in einem Dilemma: Um zu einer nachhaltigen Zukunft zu kommen, sind viele tiefgreifende Veränderungen insbesondere in den Produktionsprozessen nötig. Doch Standorte und Produktionsanlagen lassen sich nicht von heute auf morgen verändern. Die aufgebauten Strukturen und Prozesse sind in aller Regel für mehrere Jahre, manchmal sogar Jahrzehnte ausgelegt.

Tiago Pilz Genauso ist es. Umfassende Veränderungen in der Infrastruktur sind für Industrieunternehmen überaus kapitalintensiv. Es ist daher wenig realistisch, dass produzierende Unternehmen ihre bestehende Infrastruktur aufgrund neuer Anforderungen vollständig aufgeben und eine neue errichten. Das ist in den meisten Fällen aber auch nicht erforderlich und wäre ja auch nicht nachhaltig. Bestehende Strukturen und Prozesse können in aller Regel ja so weiterentwickelt werden, dass sie den neuen Anforderungen entsprechen.

Sven Neuhaus Und dies sind nicht nur Nach­haltigkeits­anforderun­gen. Auch die sich immer schneller verändernden Bedürfnisse der Verbraucher und Verbraucherinnen, ihr Wunsch nach Individualisierung sowie die Geschwindigkeit, mit der sich Technologien verbreiten, stellen neue Anforderungen. Für Industrieunternehmen bedeutet dies: Investitionen in den Standort lassen sich viel schwieriger amortisieren als früher und sind mit immer mehr Unsicherheiten verbunden.

Gunhard Keil Und doch – das zeigt ja die Automobilindustrie – finden diese Veränderungen und hohen Investitionen statt. Die Elektromobilität führt zu radikalen Umbrüchen – und das nicht nur bei den Autoherstellern, sondern auch in den angrenzenden Industrien bis hin zur Rohstoffbeschaffung.

Sven Neuhaus Ohne Frage: Disruptive Entwicklungen müssen natürlich aufgegriffen werden und wir befinden uns ja auch in einem beispiellosen Transformationsprozess. Gigantische Investitionsbeträge sind bereits in den Umbau der Industrie geflossen und werden in den kommenden Jahren und Jahrzehnten noch fließen. Man erkennt aber auch, dass bei den Investitionen Flexibilität und Resilienz enorm an Bedeutung gewonnen haben. Investitionen werden heute vielmehr danach bewertet, wie sie kontinuierlich auf neue Anforderungen ausgerichtet werden können.

Tiago Pilz Ich denke, das lässt sich aktuell sehr deutlich beobachten: Investitionsentscheidungen werden seit einigen Jahren mit extrem hoher Sorgfalt getroffen. Man bezieht in die Investitionsentscheidungen viel stärker unterschiedliche Szenarien mit ein und prüft, inwieweit sich Investitionen an unterschiedlichste Veränderungen anpassen können.

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Digitalisierung und Remote Work

Gunhard Keil Um zu mehr Flexibilität und Resilienz in den Produktionsprozessen zu kommen, hilft auch die Digitalisierung, die durch die Corona-Pandemie einen kräftigen Schub erhalten hat. Auch die Remote-Steuerung von Industrieanlagen und der Einsatz von Robotern ist in den vergangenen Jahren deutlich verstärkt worden.

Tiago Pilz Ich denke auch: Die Digitalisierung und die Remote-Steuerung eröffnen uns noch viele weitere Perspektiven und helfen enorm, unsere industriellen Prozesse nachhaltig auszurichten. Und ich bin auch sehr optimistisch, dass uns dadurch keine Arbeitsplätze verloren gehen. Denn wir werden immer Menschen benötigen, die analysieren, bewerten, steuern und entscheiden. Eine Fabrik ohne Menschen ist für mich weder vorstellbar noch wünschenswert.

Sven Neuhaus Das sehe ich genauso und gerade die vielen anstehenden Veränderungen machen eine ständige Weiterentwicklung industrieller Prozesse nötig. Und dies setzt menschliche Kreativität, Beurteilungskompetenz und Lernfähigkeit voraus. Hinzu kommt: Wir wollen ja gar nicht ausschließlich online kommunizieren. Selbst wenn es für die Umwelt besser und für uns vielleicht auch komfortabler wäre, von zu Hause zu arbeiten, wollen wir ja den persönlichen Austausch und die Begegnung mit anderen Menschen. Dies hat die Corona-Pandemie deutlich gezeigt.

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Verlagerung von Produktionsstätten

Gunhard Keil Bereits in der Corona-Pandemie, insbesondere aber durch die geopolitischen Verwerfungen infolge des Ukraine-Kriegs sind die Transport- und Energiekosten drastisch gestiegen. Ich bin davon überzeugt, dass diese auch langfristig hoch bleiben und dazu führen werden, dass sich die Standorte von Industrieunternehmen wieder dorthin bewegen, wo Energie günstig, sicher und in ausreichender Menge zur Verfügung steht.

Sven Neuhaus Das denke ich auch und dies wird zu ganz neuen Industriezentren führen. Denn auch Recyclingprozesse werden erst dann ihre Vorteile voll ausspielen können, wenn sie in unmittelbarer Nähe zu den Produktionsbetrieben entstehen. Dann wären wirklich Closed Loops mit hoher Wirtschaftlichkeit möglich.

Tiago Pilz Hinzu kommt: Viele Unternehmen bündeln ihre Produktion heute an einem Standort oder an wenigen Orten und verschicken ihre Produkte an Kunden, die Tausende Kilometer entfernt sind. Mit den bisherigen Transportkosten hat sich dieses Modell gerechnet. Dies wird sich vermutlich sehr bald ändern. Hier in Brasilien, wo die Entfernungen zwischen einzelnen Regionen ohnehin sehr groß sind, ist diese Entwicklung schon sehr deutlich zu erkennen. Es entstehen immer mehr regionale Produktionsstätten, um näher am Absatzmarkt zu sein.

Gunhard Keil ist Unternehmer, Berater und Experte mit dem Schwerpunkt Transformation und Change. / Tiago Pilz ist Industrial Director für den Bereich Papier und Filter bei Melitta Südamerika. / Sven Neuhaus ist Geschäftsleiter Technik & Entwicklung bei Melitta Europa – Geschäftsbereich Kaffeezubereitung.