Mobilität
PDF DownloadWelche Mobilitätstrends zeichnen sich ab? Welche haben das Potenzial, eine von Nachhaltigkeit geprägte Gesellschaft zu formen? Meinungen von Stefan Carsten, Christian Bonk und Stefan Dierks.
Mehr Mobilitätsoptionen
Stefan Carsten In Berlin-Mitte hatte man lange Zeit nur sechs Möglichkeiten, von A nach B zu kommen: zu Fuß, mit dem Auto, dem Fahrrad, dem ÖPNV, dem Taxi und mit Carsharing. In den letzten 20 Jahren ist das Angebot an Mobilitätsoptionen dramatisch gestiegen: Rund 25 bis 30 alternative Verkehrsmittel sind neu hinzugekommen. Dadurch wird es immer einfacher, auf das eigene Auto zu verzichten und von Gefährt zu Gefährt fast nahtlos zu wechseln.
Stefan Dierks Sehr interessant finde ich das Konzept „Superbüttel“ in Hamburg: Dort will man komplette Wohnviertel autofrei machen und vollständig auf andere Verkehrsmittel setzen. Das führt natürlich auch dazu, dass parkende Autos von den Gehsteigen verschwinden, wo sie viel Platz wegnehmen und die Lebensqualität reduzieren. Dadurch entsteht auf einmal viel Raum für andere Verkehrsmittel und Angebote – und natürlich auch für Begegnungen.
Christian Bonk Die gestiegene Anzahl ist sicherlich gut. Diese Angebote dürfen aber nicht am Rand der City enden. Mittlerweile gibt es zwar auch in kleineren Städten wie Minden Carsharing-Angebote, aber je ländlicher die Umgebung wird, desto stärker stoßen unterschiedliche Mobilitätsoptionen an ihre Grenzen. Hier dominieren weiterhin – und vermutlich auch noch für viele Jahre – das Auto und der ÖPNV.
Attraktiverer ÖPNV
Christian Bonk Ich denke, der ÖPNV hat noch viel Potenzial, besser und attraktiver zu werden: Er sollte eine höhere Frequenz haben, smarter und komfortabler werden. Außerdem glaube ich, dass wir viel erreichen werden, wenn der ÖPNV kostenlos wäre. Und: Er muss gerade in den Großstädten sicherer werden.
Stefan Carsten Das ist ein wichtiger Punkt: Studien zeigen, dass rund 50 Prozent aller Frauen im öffentlichen Raum ihr Verhalten regelmäßig ändern, um das Risiko von Belästigungen zu verringern – und daher auch den ÖPNV meiden. Gerade Frauen sind aber auf Autos und den ÖPNV angewiesen. Denn es sind immer noch größtenteils Frauen, die die Einkäufe erledigen und Einkaufstaschen schleppen.
Neue Stadtteilkonzepte
Stefan Dierks Mobilitätsherausforderungen in der Stadt entstehen ja nicht zuletzt, weil früher in der Stadtplanung klar zwischen Wohn- und Arbeitsvierteln unterschieden wurde. Zwischen diesen Vierteln – so die Idee – fährt man mit dem Auto. Von diesem Prinzip müssen wir natürlich weg. Heute stellt sich die Frage: Wie gestalte ich Stadtviertel, damit ein Mobilitätsbedarf gar nicht erst entsteht? Zum Beispiel weil es dort gleichermaßen Platz für Wohnen, Arbeiten, Sport, Kultur, aber auch für Austausch und Begegnung gibt.
Stefan Carsten In der österreichischen Seestadt Aspern wird gerade ein Stadtteil gebaut, der diesem Prinzip folgt. Dort sollen sowohl 20.000 Arbeitsplätze als auch 20.000 Wohnplätze entstehen, so dass viele Menschen dort diesen Stadtteil gar nicht mehr verlassen müssen. Und: 80 Prozent des öffentlichen Raumes sollen „sicherer Raum“ sein, d.h. weitestgehend autofrei, wo – so sagt man – Kinder das Fahrradfahren lernen können. In Deutschland sind dagegen zwischen 50 und 60 Prozent des öffentlichen Raums Straßen, also Autoraum.
Antriebstechnologien von morgen
Christian Bonk Trotz aller Alternativen bleiben Autos natürlich weiterhin von zentraler Bedeutung – gerade auch auf dem Land. Aber erfreulich ist, dass sich auch hier in den vergangenen zehn Jahren enorm viel verändert hat. Und damit meine ich nicht nur die Elektromobilität, sondern auch Entwicklungen im Biodieselbereich und natürlich in der Wasserstofftechnologie. Wenn man sich klar macht, dass wir vor 15 Jahren alle noch kein Smartphone hatten, wird deutlich, was möglicherweise mit Wasserstoff in 15 Jahren realisiert sein wird.
Stefan Dierks Ich denke auch: In der öffentlichen Debatte wird Elektromobilität häufig mit einer Technologie verglichen, die seit über 100 Jahren stetig weiterentwickelt wurde. Wer weiß, wo wir mit der Elektromobilität wären, wenn wir dort schon 100 Jahre Forschung hineininvestiert hätten? Natürlich haben wir heute noch viele Fragen nicht geklärt, beispielsweise bei der Beschaffung von Rohstoffen für die oder dem Recycling der Batterien. Auch ist heute völlig unklar, wie die benötigten Mengen an Wasserstoff produziert werden können, um diese Technologie wirklich zum Game-Changer in der Energiewende werden zu lassen. Aber wir haben ja gerade erst angefangen, neue zukunftsweisende Technologien für den Massenmarkt zu erschließen.
Umgestaltung von Lieferketten
Stefan Carsten Die Corona-Pandemie, der Unfall im Suezkanal und der Ukraine-Krieg haben deutlich gemacht, wie anfällig unsere Systeme für den Transport von Gütern sind. Immer mehr Unternehmen entscheiden sich daher dazu, ihre Logistik neu zu gestalten und wieder mehr regionale Lager aufzubauen. Sicherheit und Unabhängigkeit erhalten in der Mobilität von Gütern eine neue Bedeutung.
Christian Bonk Das ist ganz sicher so. Ich glaube allerdings nicht, dass es nun zu einer großen De-Internationalisierungswelle kommt. Dazu sind die Vorteile des weltweiten Wettbewerbs einfach zu groß. Außerdem wären sehr hohe Investitionen seitens der Unternehmen nötig, um Lieferketten wieder zu regionalisieren. Ich glaube vielmehr daran, dass Bestände zukünftig anders gemanagt werden, um eine jederzeitige Lieferfähigkeit zu garantieren.
Stefan Dierks Abgesehen davon, dass vieles gar nicht mehr vor Ort geht, halte ich eine De-Internationalisierung auch nicht für wünschenswert. Nachhaltig handeln heißt ja, neben ökologischen Anforderungen auch soziale und wirtschaftliche Bedürfnisse zu erreichen. Die Globalisierung hat rund um die Welt mehreren 100 Millionen Menschen ein Leben jenseits des Existenzminimums ermöglicht. Jetzt wieder in einen Isolationismus zu verfallen, ist aus Nachhaltigkeitssicht alles andere als sinnvoll.
Stefan Carsten ist Mobilitätsexperte und im Beirat des Bundesverkehrsministeriums zur Zukunft des ÖPNV aktiv. Er kooperiert mit dem Zukunftsinstitut in Mobilitätsfragen. / Christian Bonk ist für den Bereich Global Procurement im Melitta Business Service Center verantwortlich. / Stefan Dierks ist Director Sustainability Strategy für die Melitta Gruppe.