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Geschäftsbericht 2021

Urbanität

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Die Stadtplanung ist so gefordert wie nie zuvor. An Ideen besteht kein Mangel, herausfordernd ist vielmehr eine zügige Umsetzung. Anmerkungen von Holger Feldmann, Oona Horx-Strathern und René Korte.

Oona Horx-Strathern Die Corona-Pandemie hat vieles verändert. Hierzu gehört auch, dass sie sich deutlich erkennbar auf den Urba­nisierungstrend niedergeschlagen hat. In den letzten Jahrzehnten war in Deutschland eher eine Landflucht zu beobachten, in den beiden vergangenen Jahren scheint sich dieser Trend jetzt aber umzukehren.

Holger Feldmann Ich glaube, viele Menschen haben in der Pandemiezeit für sich entdeckt, was ihnen wirklich wichtig ist. Das Haus ist als Lebensraum viel stärker in den Mittelpunkt gerückt. Man hat viel investiert, z.B. in die Küche, in den Garten oder in das Home-Office. Vielen ist bewusst geworden, wo sie gerne sein möchten und was sie gerne tun.

Oona Horx-Strathern Erstaunlich ist ja, dass dies auch für jüngere Menschen gilt: Studien zeigen, dass sich gerade auch 18- bis 35-Jährige dafür interessieren, an den Stadtrand oder sogar aufs Land zu ziehen.

René Korte Ja, und das lässt sich tatsächlich auch beobachten. Ich selbst stamme ebenfalls aus einer kleineren Ortschaft. Von dort sind früher alle jungen Menschen weggezogen. Jetzt ist diese Region für jüngere Menschen plötzlich sehr attraktiv geworden. Ich denke, das hat mit einer veränderten Wertschätzung für unterschiedliche Lebensstile zu tun, es werden neue Prioritäten gesetzt.

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Holger Feldmann Die Krise hat deutlich gemacht, dass Lebensqualität doch noch etwas anderes ist, als wir vorher vielleicht gedacht haben. Eine Stadt bietet zwar viele Möglichkeiten, grenzt aber auch stark ein – insbesondere dann, wenn man die Angebote der Stadt aufgrund eines Lockdowns gar nicht nutzen kann. Und dies gilt natürlich besonders, wenn die Wohnung klein ist.

Oona Horx-Strathern À propos: Vor rund 15 Jahren – nach der Finanzkrise – kam ja die Tiny-House-Bewegung auf. Und dies nicht zuletzt aufgrund hoher Mieten, aber auch weil man nachhaltig leben wollte. Mittlerweile stellen immer mehr Neurowissenschaftler fest, dass Micro Appartements die mentale und physische Gesundheit eher negativ beeinflussen können. Für Singles sind Tiny Houses vielleicht noch okay, aber für Paare oder Familien ist das keine Alternative.

Holger Feldmann Das hat meiner Meinung nach auch mit unterschiedlichen Lebensphasen zu tun. Unterschiedliche Lebensphasen benötigen unterschiedliche Wohnkonzepte.

René Korte Und die Vielfalt ist ja auch ganz schön: Es ist doch großartig, wenn es unterschiedliche Lebensmodelle gibt und man entsprechend seiner Überzeugung, Sozialisation und Lebensplanung entweder in der Stadt oder auf dem Land wohnt, in kleinen oder in großen Wohnungen, mit Garten oder nur mit Balkon. Entscheidend sind für mich soziale Fragen. Und zwar: Kann man sich den favorisierten Lebensstil auch leisten? Und: Erfährt man von der Gesellschaft die Einbindung oder die Gemeinschaft, die man sich wünscht?

Oona Horx-Strathern Tatsächlich ist das Socializing in seiner Bedeutung ja enorm gestiegen. Mittlerweile entstehen auch auf dem Land immer mehr Co-Working Spaces. Man hatte lange gedacht, Co-Working Spaces funktionieren nur in der Stadt. Tatsächlich braucht man den Austausch natürlich auch auf dem Land. Und über Co-Working Spaces lassen sich genau diese kreativen Communities aufbauen.

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René Korte Und das gilt ja nicht nur für das berufliche Umfeld: Die modernen Student Houses oder die Micro Appartments, die derzeit überall entstehen, setzen genauso auf dieses Bedürfnis. Während die eigentlichen Wohnräume zwar extrem funktional, aber eben auch sehr klein sind, gibt es große Räume, in denen man sich trifft, gemeinsam lernt, aber auch gemeinsam Sport treibt oder nur kommuniziert. Dort entsteht so etwas wie eine individualistische Gemeinschaft.

Holger Feldmann Ich denke, das ist tatsächlich eine gewisse Errungenschaft: Heute kann man problemlos über Einsamkeit sprechen. Das war früher ein Tabu. Und heute denkt man intensiv – sowohl bei der Entwicklung von Immobilienkonzepten als auch bei der Gestaltung von Städten – darüber nach, wie man Einsamkeit gar nicht erst entstehen lässt.

Oona Horx-Strathern Hier bilden sich tatsächlich völlig neue Ansätze: In immer mehr Co-Working und Co-Living Spaces gibt es mittlerweile die Funktion des Chief Happiness Officers. Dieser ist dafür zuständig, dass es allen Menschen, die in dieser Immobilie arbeiten oder leben, gut geht, dass sie eingebunden werden und dass sie kein Gefühl der Einsamkeit entwickeln.

René Korte Das erinnert mich an ein interessantes Konzept, von dem ich letztens gehört habe: Dort ist in einem Büro eine Küche eingebaut worden und alle Mitarbeitenden haben sich zum Barista ausbilden lassen. In den Pausen brühen sich die Mitarbeitenden aber nicht nur einen Kaffee für sich selbst, sondern verkaufen diesen auch über ein Außenfenster an Nachbarn oder andere Menschen, die am Fenster vorbeikommen. Dies schafft eine enorme Gemeinschaft und intensiviert die Kommunikation untereinander, aber auch mit der Nachbarschaft.

Oona Horx-Strathern Und wenn man dort jetzt noch mehr Fahrradwege baut, wie dies in vielen Städten ja schon zu beobachten ist, wird man vermutlich auch häufiger zu einem Kaffeeplausch anhalten!

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Holger Feldmann Richtig! Was mir nur Sorge bereitet: Städte lassen sich nicht von heute auf morgen verändern. Es gibt ja haufenweise Ideen, was man ändern könnte, aber das dauert zumeist Jahrzehnte.

René Korte Leider ja. Und trotzdem müssen wir damit natürlich anfangen.

Oona Horx-Strathern Es gibt einige Ideen, die ich echt faszinierend finde: Dazu gehört beispielsweise, dass man sich im Rathaus beschweren kann, wenn man von seinem Fenster nicht einen einzigen Baum sieht. Dann muss die Stadt Abhilfe schaffen. Oder jeder Einwohner muss innerhalb eines 10-Minuten-Fußwegs einen grünen Ort erreichen können.

Renè Korte Schöne Ideen! Es hilft meiner Meinung nach aber auch schon, wenn Unternehmen mehr Satellitenbüros gründen und den Menschen ein Stück entgegenkommen. Home-Office allein ist ja keine Lösung, hier besteht ja wieder die Gefahr der Vereinsamung. Und ich stelle bei unseren Mitarbeitenden immer wieder fest: Sie wollen ins Büro, weil sie den Austausch brauchen, die Anregungen, aber auch Struktur.

Holger Feldmann Eigentlich ist es doch so: Wir alle wollen weniger Lärm, weniger Autos, weniger lange Wege, aber mehr Natur und mehr Orte zur Kommunikation. Wenn wir das doch alle wollen, dann sollten wir auch konsequent sein – und die Weiterentwicklung unserer Städte nach diesen Kriterien systematisch ausrichten.

Oona Horx-Strathern ist seit über 25 Jahren Trend- und Zukunftsforscherin und erstellt regelmäßig den Home-Report. / Holger Feldmann ist CEO von Melitta Single Portions. / René Korte ist CEO von 10X Innovation, dem Start-up-Inkubator in der Melitta Gruppe.